Workshop

Alter und Potentiale zukunftsorientiert neu denken

Expertenworkshop am Roman Herzog Institut

Alte Menschen in der Corona-Pandemie: Sie wurden als verletzliche („vulnerable“) und besonders schutzbedürftige Personengruppe eingestuft. Doch bei dieser Pauschalisierung regen sich Zweifel. Denn sie fokussiert zu sehr auf Krankheit und Defizite: Alte Menschen sind nicht mehr erwerbstätig und gelten darum als weniger leistungsfähig und nicht belastbar.

Solchen voreiligen Schlüssen möchte das Roman Herzog Institut positive Altersbilder entgegensetzen. Acht Expert*innen diskutierten beim Online-Workshop über die gesellschaftliche Position, die Perspektiven und Potenziale der älteren Generation.


DAS Alter gibt es nicht
„Das Thema Alter ist natürliches Terrain für das Roman Herzog Institut. Denn angesichts des demografischen Wandels und besonders der Alterung der Gesellschaft ist es eng verknüpft mit unserem Leitthema, der Zukunft der Arbeit“, sagte RHI-Vorstandsvorsitzender Randolf Rodenstock. Man dürfe Ältere nicht pauschal zum alten Eisen zählen, sondern müsse ihre individuellen Fähigkeiten fördern und nutzen. In der Arbeitswelt profitieren junge Menschen vom Erfahrungsschatz der älteren Kolleg*innen, während die Älteren sich bei den Jungen etwa den Umgang mit modernen Technologien abschauen können. „Ein produktives Miteinander von Jung und Alt ist außerdem wichtig für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt“, so Rodenstock.

Entscheidend ist ein differenzierter Blick auf das Alter, darin waren sich die Teilnehmer*innen einig. Denn die ältere Generation ist vielfältig – etwa in Bezug auf ihr kalendarisches Alter oder ihren sozioökonomischen Status. Zudem altert jeder Mensch in seinem eigenen Tempo. Dieses sogenannte biologische Alter ist ein weiterer Faktor für das individuelle körperliche, geistige und seelische Wohlbefinden. „Den Alterungsprozess müssen wir ganzheitlich betrachten“, empfahl denn auch Altersforscher Andreas Kruse.


Sinnerfahrung für „Silver Worker“
Je älter Menschen werden, desto mehr treten individuelle Unterschiede zutage. Deshalb warnt Wirtschaftspsychologe Jürgen Deller vor der „Kategorisierungsfalle“. Das gesetzliche Renteneintrittsalter hält er für willkürlich festgelegt und es entspreche nicht dem Leistungsvermögen und -willen vieler: Studien zufolge würden knapp die Hälfte aller Beschäftigten gern auch über das Rentenalter hinaus weiterarbeiten. Für sie kämen individuelle Absprachen mit den Unternehmen, Weiterbildungsangebote und Teilzeitregelungen infrage.

Den freiwilligen Charakter solcher Konzepte betonte Renate Schramek: „Nicht jeder kann im Alter noch arbeiten. Wir wollen keinen verpflichten, aber jedem Sinnperspektiven anbieten.“ Sinn im eigenen Tun zu erfahren, ist zentral für das leibliche und seelische Wohl im Alter, erläuterte Loring Sittler. Jeder ältere Mensch müsse an der „Gemeinwohlproduktion“ in Form von Erwerbsarbeit, zivilgesellschaftlichem Engagement und Familienarbeit teilhaben können.


Arbeit und Leben statt Arbeitsleben
Die Lebensarbeitszeit nicht nur einfach verlängern, sondern anders verteilen – das schlug Ursula Staudinger vor. Da die Menschen heute immer älter werden, seien sie auch gefordert, dies zu gestalten – etwa indem sie andere Prioritäten setzen oder auf ihre Work-Life-Balance achten. Auch die Politik müsse neue Rahmenbedingungen schaffen. Dazu zählt sie die menschenwürdige Betreuung von Hochbetagten.

Gleichzeitig plädierte die Sozialmedizinerin für den Umbau des Gesundheitssystems, das in seiner heutigen Form mehr einem „Krankheitssystem“ gleiche. Statt Erkrankungen zu behandeln, müsse stärker auf Prävention und Aufklärung über gesunde Lebensführung gesetzt werden. Die körperliche und geistige Fitness zu stärken und zu erhalten, ist eine wesentliche Voraussetzung für ein erfülltes Leben im Alter, bestätigten auch die übrigen Expert*innen.


Transformation mit Hindernissen
Während der individuelle und der gesellschaftliche Nutzen solcher Reformen unmittelbar einleuchten, wurde die ökonomische Seite kontrovers diskutiert: Woher kommt das Geld für die nötigen Investitionen in Bildung, Gesundheit, Pflege und Rentensystem? Decken sich die Kosten der Transformation mit den Einsparungen, die dadurch erzielt werden? Am Ende der Veranstaltung stand die Erkenntnis, dass die Herausforderungen einer Gesellschaft mit alternder Bevölkerung nicht im Handumdrehen zu lösen sind:

„Wir haben eine große Aufgabe vor uns“, gab Rodenstock zu bedenken. „Am Roman Herzog Institut sind wir keine Aktivisten, die diesen Prozess politisch zu gestalten haben. Doch es ist unsere Aufgabe, Denkanstöße zur Gestaltung des demografischen Wandels zu geben.“


Teilnehmer*innen
Prof. Dr. Jürgen Deller, Wirtschaftspsychologe, Leuphana Universität Lüneburg
Johannes Gansmeier, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ludwig-Maximilians-Universität München
Alexander Hagelüken, Redakteur Wirtschaftspolitik, Süddeutsche Zeitung
Prof. Dr. Andreas Kruse, Psychologe, Institut für Gerontologie Universität Heidelberg
Prof. Dr. Renate Schramek, Geragogin, Hochschule für Gesundheit Bochum
Loring Sittler, ehem. Leiter des Generali Zukunftsfonds
Prof. Dr. Ursula Staudinger, Psychologin, Rektorin der TU Dresden
Prof. Dr. Sven Voelpel, Betriebswirt, Jacobs University Bremen

Prof. Randolf Rodenstock, Vorstandsvorsitzender RHI
Dr. Nese Sevsay-Tegethoff, Geschäftsführerin RHI
Tina Maier-Schneider, Wissenschaftliche Referentin RHI


Moderation:
Dr. Markus Armbruster, pictomind

 

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Gerontologie, Psychologie

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Demographie, Geschichte, Politik, Zukunftsforschung

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