11. Salonstreitgespräch 2019
Die Gesellschaft im digitalen Wandel: Brauchen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Die Digitalisierung befeuert die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) in Deutschland. Das Roman Herzog Institut hatte Befürworter und Kritiker zum Salonstreitgespräch geladen, um die aktuellen Aspekte des Themas zu beleuchten. „Was ist neu an der Diskussion um das BGE und warum sehen viele jetzt den richtigen Zeitpunkt dafür gekommen?“, wollte RHI-Vorstandsvorsitzender Randolf Rodenstock von seinen Gästen wissen. Jüngsten Umfragen zufolge wünschen sich 40 Prozent der Bundesbürger eine soziale Grundsicherung für alle, ein Leben lang, ohne Wenn und Aber – eine Meinung, der sich das Publikum nicht anschließen wollte: In einer Abstimmung sprach es sich unisono gegen das bedingungslose Grundeinkommen aus.
Radikalkur für ein Relikt aus der Kaiserzeit?
„Die Zeit ist reif“ – diese Auffassung vertritt der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar, ein prominenter Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens. Digitaler und demografischer Wandel verlangten geradezu danach, Erwerbstätigkeit und Einkommen zu entkoppeln. Das BGE würde als staatliche Transferleistung alle bisherigen abgabenfinanzierten Sozialleistungen ersetzen. Finanziert werden soll es durch eine Quellensteuer, die auf der gesamten Wertschöpfung basiert. Dieses Konzept hält Straubhaar für einfach und transparent. Zudem werde es den heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Menschen eher gerecht als unser auf Bismarck zurückgehendes Sozialsystem.
Sozialstaat im Abbruch
Einen so radikalen Umbau des Sozialstaats hält der Sozialexperte Georg Cremer für höchst problematisch. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands zählt zu den bekanntesten Kritikern des bedingungslosen Grundeinkommens. Wenn das gesamte Sozialbudget zur Finanzierung des Grundeinkommens eingesetzt werde, könne der Staat wichtige soziale Aufgaben nicht mehr erfüllen – etwa die Unterstützung pflegebedürftiger Menschen oder in der Kinder- und Jugendhilfe. Ihm zufolge ist das bedingungslose Grundeinkommen „die falsche Antwort auf richtige Fragen“. Auf die aktuellen Herausforderungen durch Digitalisierung und gesellschaftlichen Wandel müsse die Sozialpolitik vielmehr mit einer ambitionierten Reform der bestehenden Systeme reagieren.
Abstellgleis oder Ansporn?
Cremer fürchtet vor allem die gesellschaftlichen Folgen eines bedingungslosen Grundeinkommens: Es drohe als „Stilllegungsprämie für die ‚Überflüssigen‘“ missverstanden zu werden. Auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit Mitte der 2000er Jahre sei dieses Unwort in vieler Munde gewesen. Ziel müsse aber sein, auch für Geringqualifizierte die Chancen auf Beschäftigung zu sichern und ihnen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Straubhaar ist hingegen überzeugt, dass das BGE zu mehr Eigenverantwortung führt und den Einzelnen befähigt, sein Leben selbst zu gestalten.
Reparatur oder Revolution?
Vor sozialpolitischem Aktionismus warnte RHI-Vorstandsvorsitzender Rodenstock: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.“ Die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen zeige aber, dass Reformen dringend nötig seien, da sich die Bedingungen von Erwerbsarbeit in der digitalen Zukunft verändern werden.
Nachzulesen sind die gegensätzlichen Positionen der beiden Ökonomen Thomas Straubhaar und Georg Cremer in der aktuellen RHI-Diskussion Nr. 32 „Das bedingungslose Grundeinkommen – Zum Für und Wider eines gesellschaftspolitischen Reformkonzepts“.