12. Salonstreitgespräch 2020

Rückblick - Wachstum, Wohlstand, Wohlbefinden: Welche Wege führen zu nachhaltiger Entwicklung?

Wohin wollen wir wachsen?

Die Folgen der Corona-Pandemie haben grundsätzliche Zweifel an der Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftens aufgeworfen. Manche sehen die aktuelle Krise als Chance, Wirtschaft und Gesellschaft an sozialen und ökologischen Zielen neu auszurichten. Eine Abkehr vom Wachstumsdiktat und ein kultureller Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit halten sie für geboten. Andere betonen, dass nur durch Wirtschaftswachstum unser Wohlstand und ein leistungsfähiges Sozialsystem garantiert werden können. Mehr Nachhaltigkeit dürfe nicht zulasten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehen.

Streiten im virtuellen Salon

Das Roman Herzog Institut (RHI) verlagerte sein Salonstreitgespräch dieses Jahr in den virtuellen Raum. Per Videokonferenz wurde über die Zusammenhänge zwischen Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden diskutiert. „Niemand zweifelt mehr daran, dass wir uns dringend mit nachhaltiger Entwicklung beschäftigen müssen – angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und immer knapper werdenden natürlichen Ressourcen“, sagte RHI-Vorstandsvorsitzender Prof. Randolf Rodenstock. Doch wie sieht zukunftsfestes Wirtschaften aus? Sind Wachstum und Nachhaltigkeit miteinander vereinbar und welche Anreize kann die Politik setzen? Ist unser bisheriger Lebensstil langfristig tragfähig – oder müssen wir alle verzichten lernen?

 

Immer mehr, immer schneller, immer weiter?

„Seit der Nachkriegszeit werden Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden bei uns als eine Kausalkette gesehen,“ so Angelika Zahrnt, Volkswirtin und ehemalige Vorsitzende des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland). Das ungehemmte Wirtschaftswachstum in den Industrienationen zerstöre jedoch die natürlichen Lebensgrundlagen aller und habe zu großer sozialer Ungerechtigkeit geführt. Vor allem die Länder des globalen Südens seien die Verlierer dieser Entwicklung. Zahrnt fordert eine sozial-ökologische Transformation – orientiert am Prinzip der Suffizienz (Genügsamkeit): Nachhaltigkeit müsse das Ziel allen politischen Handelns sein, wobei langfristig neue Formen des Konsum, der Arbeit und auch der Arbeitsteilung – regional wie international – entstünden. Statt dem wirtschaftlichen Wachstum oberste Priorität zuzugestehen, müsse die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen respektiert werden.

 

Qualität statt Quantität

Wirtschaftliches Wachstum als Selbstzweck stellt auch die Ökonomin Karen Pittel, Leiterin des ifo-Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen, infrage. Langfristig hält sie nur ein qualitatives Wachstum für tragfähig, das die Steigerung des Sozialprodukts mit der Schonung natürlicher Ressourcen in Einklang bringt. Durch innovative umweltfreundliche Technologien könnten Produktivität und Ressourcenverbrauch voneinander entkoppelt werden. Der Gesetzgeber müsse durch geeignete Rahmenbedingungen nachhaltiges Wirtschaften fördern und eine konsequente Klimapolitik betreiben – etwa durch eine CO2-Steuer oder den Emissionshandel. Letztlich hängt es Pittel zufolge auch vom Verhalten der Verbraucher ab, ob solche Maßnahmen fruchten.

 

Corona als Katalysator

Dass die Corona-Krise zu einem gesellschaftlichen Wertewandel beitragen kann, halten beide Expertinnen für wahrscheinlich. So hätten viele Menschen während des Lockdowns erlebt, dass ihr Wohlergehen weniger von materiellen Gütern abhängt als von leistungsfähigen gesellschaftlichen Strukturen und von einem intakten sozialen Umfeld. Diese Erfahrung könnte sie auch für das Thema Klimaschutz stärker sensibilisieren. Andererseits hätten ökonomische Notwendigkeiten oft den Vorrang gegenüber ökologischen Einsichten: „Die Corona-Krise stellt uns vor die Aufgabe, die Wirtschaft rasch zu stabilisieren. Das aber darf die Dringlichkeit der Klimakrise nicht überlagern“, warnt Umwelt-Expertin Zahrnt. Nach Auffassung von Pittel hat die Pandemie gezeigt, dass die Widerstandsfähigkeit gegen Schocks auch ein Aspekt von Nachhaltigkeit ist: „Unternehmen müssen mehr in ihre Resilienz investieren“, empfiehlt sie.

 

Konjunkturspritze ohne Langzeitwirkung?

In der Diskussion mit den zugeschalteten Gästen ging es schließlich auch um das milliardenschwere Konjunkturpaket der Bundesregierung. Nach Ansicht beider Wissenschaftlerinnen wird das Thema Klimaschutz darin immer noch nicht als Querschnittsthema aufgegriffen, obwohl dies dringend erforderlich sei. Auch wenn sich eine Reihe einzelner Maßnahmen mit der Förderung umweltfreundlicher Energien beschäftigten, sei ein klares Bekenntnis zur Klimaneutralität nicht erkennbar. Bei so viel Einmütigkeit konnte Gastgeber Rodenstock abschließend nur noch darauf verweisen, dass der Abend zwar nicht zum Streit, wohl aber zu mehr Durchblick geführt habe: „Mit unserer Arbeit am RHI wollen wir Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm holen und verständlich machen – dazu hat diese Veranstaltung beigetragen“.

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