„Corona ist bei aller Tragik zugleich auch eine Inspiration für die Forschung“

Interview mit der Neurologin Susanne Schneider

Frau Prof.  Schneider, Sie erforschen unter anderem Erkrankungen wie Parkinson, neben der Alzheimer-Demenz zweithäufigste degenerative Erkrankung des Nervensystems. Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich?

Wir forschen zu den Ursachen, Symptomen und neuen Therapien sogenannter neurodegenerativer Krankheiten. Diese Erkrankungen zeichnen sich durch einen fortschreitenden unaufhaltsamen Verlust von Nervenzellen aus.

In Deutschland leiden etwa zwei Millionen Menschen an neurodegenerativen Krankheiten wie der Alzheimer-Demenz oder der Parkinson-Erkrankung. Diese Zahl nimmt auch aufgrund der steigenden Lebenserwartung stark zu und wird sich bis 2050 verdoppeln bis verdreifachen.

Bisher unklar ist, ob auch die Langzeitfolgen von Covid-19 die Zahl der Patienten mit Bewegungsstörungen und anderen neurologischen Krankheiten deutlich erhöhen werden. Neurodegenerative Krankheiten sind somit nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern auch eine zunehmende sozioökonomische Herausforderung.

Prägt Ihre wissenschaftliche Arbeit auch Ihre persönliche Perspektive, also den eigenen Blick aufs Alter?

Ja, sehr. Das durchschnittliche Erkrankungsalter der Parkinsonkrankheit liegt zwischen 50 und 60 Jahren. Doch können auch junge Menschen an Parkinson erkranken. Sie werden durch die Krankheit ihrer Jugend beraubt. Sie zu behandeln und die Familien zu begleiten, prägt mich sehr. Und es mahnt auch, die eigene Lebenskraft wertzuschätzen.

Die Corona-Pandemie hat der älteren Generation pauschal den Stempel einer besonders vulnerablen Personengruppe aufgedrückt. Grundsätzlich ist unser Bild vom Alter stark auf Defizite fixiert. Ist das aus Ihrer Sicht als Medizinerin gerechtfertigt?

Es stimmt, dass der menschliche Organismus mit zunehmendem Alter anfälliger für Krankheiten wird. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie haben Menschen mit zunehmendem Alter, statistisch gesehen, ein höheres Risiko für einen schwereren Verlauf.

Bei der Spanischen Grippe in den 1920er Jahren war das ganz anders: Damals gab es die höchsten Sterberaten bei den jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren. Es wäre also falsch zu sagen, dass ältere Menschen grundsätzlich die Schwächsten sind.

Auch jenseits von Krankheiten und Medizin sind „Alter“ und „defizitär“ nicht gleichzusetzen. Denn das Alter zeichnet sich doch auch durch einen Schatz an Lebenserfahrungen aus.

Heute heißt es oft: Wir müssen – auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – die Potenziale älterer Mitbürger*innen stärker nutzen. Das Können und die Erfahrungen der älteren Generation sollen für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden. Halten Sie diesen Anspruch für realistisch und sinnvoll?

Als Ärztin begegne ich den unterschiedlichsten Menschen –  manche bleiben lange biologisch jung, andere sind früher vom Leben gezeichnet.

Viele haben den Wunsch, möglichst lange tätig zu sein. Menschen möchten ihre Zeit, ihre Kraft und ihren Wissens- und Erfahrungsschatz sinnvoll einbringen. Ich sehe darin eine große Chance für die Wissensgesellschaft: Mit zunehmendem Alter lässt zwar die körperliche Leistungsfähigkeit ab, doch profitieren die Älteren oft von einem hohen sozialen und fachlichen Wissen sowie wertvollen Lebenserfahrungen. Diese Kompetenzen sind eine solide Basis, um Erkenntnisse einordnen und bewerten zu können und strategische Überlegungen anzustellen.

Vor diesem Hintergrund wäre es ideal, älteren Menschen verstärkt mit altersangemessenem Zeiteinsatz Erwerbsbeteiligung zu ermöglichen und ihre oft ungenutzten Potenziale besser zu nutzen.

Was kann die medizinische Forschung heute dazu beitragen, dass Menschen im Alter fit und leistungsfähig bleiben – oder auch trotz Krankheit und der damit verbundenen Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben führen?

Ärzte und Forscher arbeiten daran, dass Menschen auch im Alter leistungsfähig bleiben. Neue Technologien bei der Erforschung von Krankheiten kommen überall zum Einsatz – etwa im Bereich der Genetik. Als ich anfing zu arbeiten, wurden Gentests noch mit der Hand pipettiert; heutzutage werden ganze Genome elegant in wenigen Stunden analysiert und mit Hilfe von mathematischen Modellen interpretiert.

Ein anderes Beispiel ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz im Bereich der Bildgebung. Auch werden mehr und mehr präzisionsmedizinische Therapien entwickelt: Statt „One size fits all“ kommen maßgeschneiderte Medikamente zum Einsatz, etwa bei seltenen Erbkrankheiten. Schließlich trägt die Digitalisierung dazu bei – beispielsweise durch Apps – das Leben von Patienten und ihre Pflege zu erleichtern. Dabei stehen wir nach meinem Eindruck erst am Beginn der digitalen medizinischen Revolution. So steht etwa die medizinische Nutzung von Big Data noch am Anfang.

Welche Auswirkungen hatte Corona auf Ihre Forschungsarbeit?

Die Pandemie hatte großen Einfluss auf die Rahmenbedingungen klinisch tätiger Ärzte und Forscher. So stagnierte die Forschung für viele Bereiche jenseits von Corona.

Zugleich waren die vergangenen 14 Monate aber bei aller Tragik und Herausforderung zuglich auch eine Inspiration: Die kollektiven wissenschaftlichen und regulatorischen Anstrengungen, die Eigenschaften und Behandlungsmöglichkeiten von Covid-19 besser zu verstehen, wurden konzentriert verfolgt und führten in einem beispiellosen Tempo zu Fortschritten. Dies ist eine Inspiration für andere Bereiche, auch über die Medizin hinaus.

Hat die Corona-Pandemie dazu beigetragen, dass wir allgemein die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit neu definieren?

Ja. Die Pandemie zwang uns, unsere Aktivitäten auf ein Nötiges zu reduzieren. Das erlaubte mehr Zeit mit sich selbst. Zugleich waren die Themen Krankheit und Gesundheit allgegenwärtig. Ich bin sicher, dass viele diese Werte für sich überdacht haben.

Das Verständnis von Gesundheit war aber auch schon vor der Corona-Pandemie ein sehr individuelles. Die Generation junger Menschen legt Wert auf (Selbst-)Achtsamkeit und gesunden Lebenswandel durch Sport und gesunde Ernährung. Fitness-Apps unterstützen diesen Trend, auch die Krankenkassen belohnen einen gesunden Lebensstil.

Gesundheit ist viel mehr als das Freisein von Krankheiten. Moderne Sichtweisen schließen daher die Fähigkeit mit ein, die oft komplexen Anforderungen des täglichen Lebens adäquat bewältigen zu können und dabei mit sich und seiner Umgebung im Gleichgewicht zu sein.

Ist das Ansehen von Wissenschaftler*innen und die Wertschätzung ihrer Arbeit in der Pandemie gewachsen?

Ich selber habe es so wahrgenommen. Zugleich liest man auch, dass prominente, exponierte Wissenschaftler wie Herr Professor Drosten auch viel Gegenwind erfahren haben und sogar bedroht wurden. Das ist erschütternd, zumal die Wissenschaftler ja nicht die politischen Entscheidungsträger sind.

Das RHI vergibt jährlich einen Forschungspreis für Nachwuchswissenschaftler*innen. Ein wichtiges Kriterium ist dabei die Verständlichkeit der Forschungsergebnisse. Wie relevant ist dieser Aspekt für Sie?

Als Ärztin mit Einblick in die neueste Forschung bin ich täglich mit Patienten, Angehörigen oder fachfremden Kollegen im Gespräch, die nur wenig oder gar kein Hintergrundwissen zu diesen Themen haben. Es gehört daher zu meinen Hauptaufgaben, komplexe Dinge vereinfacht darzustellen.

Mein Vater hat mir als Kind oft die Parabel von den zwei Wissenschaftlern erzählt. Der eine hält einen Vortrag, der so kompliziert ist, dass alle im Anschluss andächtig klatschen, weil sie beeindruckt sind. Der andere vermag es, die Botschaft auf den Kern zu reduzieren. Die Zuhörer sagen: „Das ist ja einfach zu verstehen“ und geben dem zweiten Redner weniger Applaus, weil sie seine Arbeit für simpel halten. Zu Unrecht. Denn es ist eine Kunst, komplexe Erkenntnisse und Zusammenhänge für sein Gegenüber angemessen zu übersetzen. Insofern ist das Kriterium der Verständlichkeit aus meiner Sicht sehr wichtig.

Ihre Forschungstätigkeit ist eng verzahnt mit anderen Fachgebieten. Wie tauschen Sie sich aus? Welchen Stellenwert hat interdisziplinäres Arbeiten für Sie?

Ich arbeite sehr interdisziplinär. Der Austausch macht mir viel Freude und bereichert mein Leben ungemein. Es fängt „im Kleinen“ an mit Kollegen aus nicht-neurologischen Fächern oder Nicht-Medizinern wie den Grundlagenforschern.

Um die Erkenntnisse from bench to bedside, wie man es nennt, zu bringen, bedarf es eines regen Austauschs. Hier kann es schon mal zu Verständnisschwierigkeiten kommen, weil der eine oder andere vergisst, dass man nicht so tief in der jeweiligen Materie drinsteckt. Leichter ist es fast mit Menschen, die ganz fachfremd sind, weil man hier intuitiv davon ausgeht, dass sie eine andere Sprache sprechen.

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