"Digitale Empathie" – Warum wir vor allem die Erwachsenen in Sachen Medienkompetenz boostern müssen.

Interview mit dem Journalisten und Korrespondenten Richard Gutjahr

Richard Gutjahr ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München. Er hat an der Ludwig-Maximilians-Universität Politik und Kommunikationswissenschaften studiert. Nach Stationen bei Süddeutsche Zeitung, CNN, BR und WDR ist Gutjahr seit Mitte 2021 als USA-Korrespondent in Washington für mehrere Verlage tätig. Für seine Reportagen und Online-Projekte wurden er national wie international mit diversen Preisen ausgezeichnet.

Herr Gutjahr, Journalisten werden zunehmend zur Zielscheibe. Damit meine ich nicht nur den offenen Hass, der ihnen bei den Corona-Protesten auf offener Straße entgegenschlägt. Die Vertrauenskrise gegenüber Medienvertretern scheint sich durch die gesamte Gesellschaft zu ziehen. Können Sie das nachvollziehen?

Richard Gutjahr: Einerseits ja. Auch durch meine eigene Geschichte. Selbst erfahrene Kollegen von namhaften Verlagen haben Dinge über mich geschrieben, ohne vorab den Austausch mit mir zu suchen. Dabei gehört es zu jeder journalistischen Recherche dazu, Beteiligte zu Wort kommen zu lassen und Sachverhalte zu verifizieren. Im Netz bleiben solche Fehler und Schludrigkeiten für immer archiviert und Menschen tauschen sich darüber aus. Leider bleiben auch hier negative Erlebnisse und Erfahrungen stärker im Gedächtnis haften als positive – und in der Summe scheint sich so über die Jahre hinweg ein ungutes Gefühl breitgemacht zu haben. Bis hin zu dem Eindruck, dass wir Journalisten „über den Dingen stehen“, den „Kontakt zur Gesellschaft verloren haben“ oder gar „eine bestimmte Agenda verfolgen“.

Und andererseits?

Gutjahr: Andererseits fühlen sich die meisten Journalisten sehr wohl dem Pressekodex des deutschen Presserats gegenüber verpflichtet. Sie machen ihren Job so gut wie noch nie und wir brauchen sie. Denn wenn wir unsere Informationen nur noch über Plattformen wie Google oder Facebook erhalten, dann Gnade uns Gott. Den großen Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley geht es in erster Linie nicht um den Wahrheitsgehalt einer Message, sondern um Klicks. Zudem unterliegen Menschen wie Mark Zuckerberg keiner offiziellen Kontrolle. Im Grunde kann man sagen: Zuckerberg ist der Chefredakteur von 2,8 Milliarden Nutzern. Kein Medienmogul, nicht einmal Rupert Murdoch hatte jemals so eine Meinungsmacht.

Nicht zuletzt durch die Whistlerblowerin Frances Haugen hat die Öffentlichkeit erfahren, wie lax Facebook gegen Fake News bislang vorgeht. Manager sollen den Kampf gegen Desinformation zu Zeiten Donald Trumps sogar verhindert haben, weil sie seine Anhänger nicht als Kunden verlieren wollten. Nur: Hat das irgendeinen Einfluss auf unser Verhalten im Netz? Sind wir kritischer geworden?

Gutjahr: Darüber gibt es, soviel ich weiß, keine Erhebungen, keine Zahlen. Aber ich würde es eher bezweifeln. Vor Frances Haugen haben schon andere ehemalige Mitarbeiter versucht, uns über die Geschäftspraktiken der Tech-Giganten aufzuklären – zumindest auf die Wachstumszahlen der Unternehmen hatte das keine Wirkung. Ich selbst konnte bereits vor ein paar Jahren mit einem ehemaligen Google-Mitarbeiter sprechen, und das Bild, das er schon damals zeichnete, war äußerst plastisch. In dem Moment, in dem wir passiv ein Katzenvideo anklicken, betreten wir – ohne es zu wissen – einen Kriegsschauplatz. Unser Gegner: ein Supercomputer, der einen Avatar von uns mit Videos beschießt, um im Bruchteil von Sekunden zu erkennen, welches wir im Anschluss – gemäß unserem hinterlegten Profil – mit ziemlicher Sicherheit auch noch anklicken werden. Wobei wir inzwischen gar nicht mehr klicken müssen, Autoplay erledigt das für uns.

Es geht darum, uns möglichst lange vor dem Bildschirm zu halten …

Gutjahr: … und um Interaktion, auf Englisch "engagement". Man will erreichen, dass wir aktiv werden, dass wir Videos, Bilder und Nachrichten liken, teilen, kommentieren. Unternehmen wie Facebook messen jede einzelne Handlung und nutzen diese Kennwerte als Grundlage für ihre Anzeigenpreise. Kurz gesagt, je mehr Engagement, desto mehr Umsatz. Das Problem: Nicht nur Katzenvideos haben eine hohe Engagement-Rate, auch Fake News lösen mehr Interaktion aus als echte News. Ich denke, wir sind alle noch zu naiv, was das ganze Thema angeht, und wir werden die kommenden zehn Jahre dafür nutzen müssen, medienkompetenter zu werden. Damit meine ich vor allem uns Erwachsene – wie bei Corona sind besonders die Älteren gefährdet und müssen zuerst in Sachen digitaler Bildung geimpft und geboostert werden. Oder kennen Sie viele Menschen, die Ihnen ohne Zögern erklären können, wie eine Suchmaschine beziehungsweise ein Algorithmus funktioniert? Kinder und Jugendliche sind als digital Natives zwar nicht immun, sie verfügen aber über eine Art natürlichen Bullshit-Detektor.

Sie selbst sind Opfer von Verschwörungserzählungen geworden. Bis heute terrorisieren Neonazis und Reichsbürger Sie mit Hass und Morddrohungen. Hat diese Erfahrung auch Einfluss auf Ihr eigenes Verhalten im Netz?

Gutjahr: Auf jeden Fall. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie einfach und wie schnell sich durch ein paar Tweets ein weltweiter Mob aktivieren lässt. Darunter nicht nur Extremisten, sondern viele Menschen, die überzeugt davon waren, der Gesellschaft einen Gefallen zu tun, wenn sie mich jagen. Sie wähnten sich auf der richtigen Seite. Diese Opfer-Täter-Umkehr funktioniert natürlich auch in der normalen Welt, doch im Netz erhält das Ganze eine unglaubliche Dynamik. Es war eine sehr schwierige Zeit, doch sie hat mich auch weitergebracht. Weil ich seitdem die Mechanismen des Netzes besser verstehe und auch mein eigenes Verhalten hinterfrage: Wie bewege ich mich selbst durchs Netz? Prüfe ich Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt, bevor ich sie weiterleite? Wie viele unüberlegte, süffisante Tweets habe ich bereits abgesetzt, die Menschen möglicherweise verletzen? Es gibt hier kein Schwarz oder Weiß, kein Gut oder Böse, die Grenzen verschwimmen und jeder ist gefordert, sich in der virtuellen Welt zu verorten und selbstkritisch Stellung zu beziehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden.

Eine aktuelle Umfrage im Auftrag von HateAid und der Alfred-Landecker-Stiftung hat gerade erst gezeigt: Digitale Gewalt hat in ganz Europa ein massives Ausmaß angenommen. Zwei Drittel aller Befragten zwischen 18 und 80 haben bereits Hass und Hetze im Internet erlebt. Zudem zeigt eine Studie der Stiftung Neue Verantwortung, dass Falschmeldungen von den wenigsten als solche erkannt werden. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus? Und gibt es konkrete Ratschläge, wie wir die Flut an Hass und Falschinformationen stoppen können.

Gutjahr: Ich empfinde das Internet als großes Geschenk. Und ich bin sehr dankbar, dass ich an der Schnittstelle zwischen analog und digital geboren bin. Vielleicht möchte ich mir deswegen meinen Optimismus nicht nehmen lassen. Auf der Republica habe ich bereits 2018 drei Regeln formuliert, die für mich nach wie vor Bestand haben: Erstens Wortführer von Hass und Hetze identifizieren und juristisch gegen sie vorgehen. Zweitens nicht schweigen, sondern Stellung beziehen – das gilt genauso für die vielen schweigenden Zuschauer –, sonst werden die Korridore des Hasses immer breiter. Drittens Fake News nicht einfach nur mit dem Label Fake News versehen und einen Faktencheck dagegensetzen. Denn die Kernaussage einer gefälschten Nachricht bleibt bestehen und sickert wie Gift in die Gesellschaft ein.

Was meinen Sie damit konkret?

Gutjahr: Faktenchecks sind zwar wichtig, aber kein Allheilmittel. Denn wenn sie eine Falschmeldung richtigstellen wollen, müssen sie diese Falschmeldung erst einmal wiedergeben – durch diese Wiederholung, das konnten mehrere Studien inzwischen zeigen, besteht die Gefahr, dass Menschen dadurch überhaupt erst auf diese Inhalte aufmerksam werden. Zudem kann unser Gehirn Wörter wie „nicht“, „nein“, „keine“ nur schwer verarbeiten und von dem Satz „Sie müssen keine Angst vor der Impfung haben“ werden vor allem die Wörter „Angst“ und „Impfung“ hängen bleiben. Wir müssen also negative Narrative durch positive Narrative ersetzen, eine alternative Story schaffen – anstatt immer nur mit Negation und Richtigstellung zu reagieren. Letztlich geht es um digitale Empathie. Dazu gehört nicht nur Empathie gegenüber seinen Mitmenschen: Ich bin mir darüber bewusst, welche Wirkung meine digitalen Aktionen auf die reale Welt haben. Sondern auch Empathie gegenüber der Maschine: Ich weiß, wie die Mechanik einer nicht hierarchisch aufgebauten Netzwerkarchitektur funktioniert. Oder etwas gefühlvoller ausgedrückt: Wir müssen die Digitalisierung mit Inbrunst umarmen.


zum Expertenprofil Richard Gutjahr

Foto: Mathias Vietmeier

© Roman Herzog Institut e.V.