Nachgehakt: Führung

Eine Frage – zwei Antworten aus Wissenschaft und Praxis

Prof. Dr. Jens Nachtwei ist Personalpsychologe, forscht am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt an der Hochschule für angewandtes Management. Sein Fokus: Nutzung der empirischen Psychologie zur Optimierung von Personalauswahl, Führung und Vertrieb in Unternehmen.

„Die eigenen Kompetenzen müssen klar sein“

Herr Nachtwei, wieso fühlen sich Führungskräfte oft nicht gut genug vorbereitet auf die berufliche Realität?

Es mangelt nicht an Wissen. Es fehlt vielmehr an der Orientierung, welches Wissen für die Realität wichtig ist. Was der Führungsnachwuchs gut gebrauchen könnte, sind fundierte Einblicke in das eigene Kompetenzprofil sowie einen Eindruck vom Spannungsfeld aus „alter“ versus „neuer“ Arbeitswelt.

Als Personalpsychologe befasse ich mich seit 15 Jahren mit der Frage, wie man die Eignung für Jobs wissenschaftlich fundiert feststellen kann. Die meisten Programme in Unternehmen und Verwaltungen konzentrieren sich dabei auf Führungskräfte – und sind leider ziemlich optimierungsbedürftig.

Auch Human Resources (HR) definiert nicht, welche Kompetenzen eine Führungskraft eigentlich mitbringen sollte. Entsprechend ratlos sind die Führungskräfte selbst, sodass sie wilde Hypothesen bilden. Die sind zwar bei genauerem Hinsehen nicht haltbar, prägen aber trotzdem das eigene Handeln und damit eine ganze Kultur.

Mit einem fundierten und gut verständlichen Kompetenzmodell wäre allen schon sehr geholfen. Es müsste die Fähigkeiten, Fertigkeiten und oft auch Persönlichkeitsmerkmale enthalten, die für die Bewährung in der Führungsrolle entscheidend sind. Bewährung sollte dabei nicht nur Leistung oder Beförderung sein, sondern auch „weiche“ Faktoren wie Gesundheit und Zufriedenheit beinhalten.

Viele Organisationen haben inzwischen Kompetenzmodelle. Sie sind jedoch oft zu umfangreich und enthalten das Zwei- bis Dreifache der maximal empfohlenen zwölf Kompetenzen. Da sieht niemand in HR und keine Führungskraft mehr durch – trennscharf beurteilen lässt sich dieses Sammelsurium auch nicht mehr.

Betrachtet man dann, welche Kompetenzen das Modell enthält, schlägt die Alltagspsychologie voll durch: „Vision, Passion, Drive“ und andere schillernde Wortmarken werden genannt, während ernstzunehmende Kompetenzen wie Problemlösefähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, soziale Einflussnahme, emotionale Belastbarkeit und Teamorientierung fehlen.

Keine Personalentwicklung nach dem Gießkannenprinzip

Mit einem tauglichen Kompetenzmodell kann man Führungskräften eine Standortanalyse anbieten und damit eine Orientierung zu den eigenen Stärken und Entwicklungsfeldern. Darauf sollte Personalentwicklung setzen, sodass nicht jede/r dieselben Coachings und Trainings bekommt, sondern alle Maßnahmen kompetenzbasiert begründet sind. Selbsterkenntnis ist der erste wichtige Schritt für die persönliche Entwicklung – und das kann nur gelingen, wenn Modelle und Instrumente so gut kalibriert sind, dass jede Führungskraft ein valides Kompetenzprofil erhält.

Neben den personenbezogenen Aspekten ist die Kollision von alter und neuer Arbeitswelt ein Thema, mit dem Führungskräfte sich auseinandersetzen müssen. Auf der einen Seite starre Hierarchien, auf der anderen Seite Demokratisierung, Denken und Handeln in Netzwerken. Dazwischen: unendlich viele Graustufen. Hier sollte eine Führungskraft orientiert sein, also mit den Konzepten aus alter und neuer Welt etwas anfangen sowie die Herausforderungen des Übergangs beurteilen können.

Dazu gehört auch eine gewisse Expertise in allen Fragen der Digitalisierung. Dieser Bereich wird von vielen Führungskräften kaum überblickt und entsprechend unterschätzt. Künstliche Intelligenz und daraus folgende Automation sind längst keine Laborspielereien mehr, sondern in der Praxis angekommen. Derartige Technologien verändern ganze Tätigkeitsprofile, machen zum Teil Jobs obsolet und lassen neue entstehen.

In der Psychologie interessieren wir uns vor allem dafür, was diese Entwicklungen mit dem Erleben und Verhalten von Beschäftigten machen – auch dafür sollte sich jede Führungskraft interessieren. Führungskräfte, die alte und neue Welt auf dem Schirm haben und einschätzen können, wie schmerzhaft der Übergang oft ist, sind sicher besser auf ihre Rolle vorbereitet als jene, die nicht über den eigenen Tellerrand hinausschauen und nur im Operativen verharren.


Werner Fassrainer ist ehemaliger Manager in der Konzernzentrale der Siemens AG, Lehrbeauftragter, Gründer des Business Competence Seminars (www.bcs.coach) und Bildungsunternehmer in München.

„Führungskräfte brauchen mehr Praxiswissen“

Herr Fassrainer, wieso fühlen sich Führungskräfte oft nicht gut genug vorbereitet auf die berufliche Realität?

Wir leben in einer volatilen Zeit. Die Halbwertszeit des Wissens wird immer geringer. In fast allen Bereichen des menschlichen Wirkens finden disruptive Veränderungen statt, auch in Politik und Wirtschaft. Dadurch hat sich auch das Verständnis von Management, Führung und Strategie gewandelt.

Hinzu kommt der fehlende Praxisbezug in der Ausbildung der Nachwuchskräfte. Natürlich gibt es Unternehmen, Business Coaching Institute und einzelne Mentor*innen, die in der Ausbildung gute Arbeit leisten. Soweit ich sehe, hat aber der Großteil der jungen Generation keinen Zugang zu diesen eher exklusiven Angeboten.

Zunächst wären hier die Schulen und Universitäten gefordert. An den Schulen wird diesbezüglich kaum etwas gemacht, weil die entsprechenden Ressourcen fehlen. Bei den Universitäten ist es nicht viel besser. Einige Universitäten stellen Competence Centers zur Verfügung, die sich mit theoretischen Konzepten zu Leadership-/Entrepreneurship beschäftigen.

Dabei fällt mir auf, dass viele Professor*innen und wissenschaftliche Mitarbeiter*innen kaum Praxis-Erfahrung haben im Sinne einer relevanten Führungsposition in einem internationalen Unternehmen. Die Studierenden wollen aber wissen, was kommt im Berufsalltag konkret auf mich zu? Mit welchen Schwierigkeiten muss ich rechnen und welche Eigenschaften brauche ich als zukünftige Führungskraft?

Zu jeder Situation die passende Simulation

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, um angehende Führungskräfte praxisorientiert auszubilden. Was bei Studierenden meiner Erfahrung nach sehr gut ankommt, ist die Simulation von Praxissituationen. Zum Beispiel eine Budget-Analyse in einer Team-Besprechung.

Eine weitere Möglichkeit ist die Vorbereitung von zukünftigen Führungskräften auf unbequeme Aufgaben. Was ist zu tun, wenn ein Unternehmen neue Strukturen braucht und dadurch Arbeitsplätze verloren gehen? Wie sollte eine zukünftige Managerin auf psychologisch belastende Aufgaben im Unternehmen vorbereitet werden – etwa auf unangenehme Mitarbeitermaßnahmen, harte Verhandlungen mit Stakeholdern, Trennungssituationen und extreme Belastungssituationen? Das ist der Unternehmensalltag!

Last but not least brauchen zukünftige Führungskräfte einen klaren Überblick über die „Future Trends“, zum Beispiel künstliche Intelligenz (KI), Internet of Things (IoT) und Industrial Internet of Things (IIoT), Quantencomputing, Big Data/Data Mining, neue Kennzahlensysteme der Marktwirtschaft, Energiewende, Arbeits- und Erwerbssituationen der Zukunft, globale Politik, aktuelle Themen der Gesellschaft. All das gehört heute mehr denn je zum Handwerkszeug eines Managers.

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