Interview mit Prof. Andreas Kruse, Altersforscher und Mitglied im Deutschen Ethikrat

Foto: Deutscher Ethikrat

Hat die Corona-Pandemie zu einer Polarisierung Alt gegen Jung geführt?

Kruse: Das kann ich in unserem Land wie auch in unseren Nachbarländern nicht erkennen. Im Gegenteil: Ich sehe überall Zeichen der Solidarität. Diese Solidarität ist für mich ein hohes Gut, denn sie ist für die Stabilität unserer Demokratie wichtig.

Für kontraproduktiv halte ich jedoch die Forderung, dass sich alte Menschen aus dem öffentlichen Leben zurückziehen sollten, um junge Menschen und ihre berufliche Leistungsfähigkeit nicht zu gefährden. Dabei wird älteren Menschen pauschal mangelndes Verantwortungsgefühl unterstellt. Zudem geht die Forderung nach dem Rückzug alter Menschen auch von der Annahme aus, dass wir auf deren Präsenz verzichten könnten.

Damit schreiben wir ihnen mangelnde gesellschaftliche Kreativität und Produktivität zu. Doch der Rückzug alter Menschen aus dem öffentlichen Raum nimmt diesem viel von seiner Vielfalt.

Sie sagen also: Wir können nicht alle alten Menschen pauschal zur Risikogruppe erklären. Warum?

Kruse: Die verallgemeinernde Forderung, alte Menschen sollten sich nun wieder stärker zurückziehen, verbunden mit der Aussage, alte Menschen bildeten eine besondere Risikogruppe, birgt die Gefahr einer Diskriminierung.

Das Argument, alte Menschen könnten nicht die notwendige Verantwortung für sich selbst und für andere Menschen erkennen und verwirklichen, steht im völligen Gegensatz zu wissenschaftlichen Befunden, die zeigen, wie verantwortungsvoll alte Menschen mit den Risiken der Pandemie umgehen.

Sie stehen auch im Gegensatz zu der Erkenntnis, dass Verantwortung einen zentralen Begriff im Erleben vieler alter Menschen darstellt: Verantwortung für sich selbst, Mitverantwortung für andere Menschen, schließlich Mitverantwortung für das Gemeinwohl.

Welches Vorgehen empfehlen Sie stattdessen?

Kruse: Statt von einer Risikogruppe zu sprechen und diesen Begriff über alle alten Menschen zu verallgemeinern, sollte vielmehr von individuellen Ressourcen-Risiko-Profilen ausgegangen und in Einzelgesprächen mit alten Menschen herausgearbeitet werden:

Wo liegen die besonderen Stärken (Ressourcen), wo die erhöhten Risiken? Und welche Empfehlungen mit Blick auf individuelles Handeln ergeben sich vor dem Hintergrund eines spezifischen Ressourcen-Risiken-Profils?

So muss man dies machen und nicht durch die immerfort getroffene Aussage, diese Risikogruppe müsse sich nun zurückziehen. Eine solche Aussage kann doch bald keiner mehr hören.

Eine Tatsache ist jedoch, dass die Älteren besonders gefährdet sind, an Covid-19 zu erkranken und an den Folgen einer Infektion zu sterben. Sind Maßnahmen zu ihrem Schutz vor diesem Hintergrund nicht gerechtfertigt?

Kruse: Eine besondere Ansteckungsgefährdung sowie das deutlich erhöhte Risiko schwerer Verläufe von Covid-19 finden wir in stationären Einrichtungen der Altenhilfe. Bewohner*innen dieser Einrichtungen müssen zweifellos besonders geschützt werden. Aber dieser Schutz darf nicht zur Isolation führen, denn Isolation hat dramatische Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit.

Schnelltests wie auch Impfungen sind für Bewohner*innen sowie Mitarbeiter*innen ein großer Fortschritt – nämlich auch in der Hinsicht, dass sich Handlungs- und Bewegungsradius wieder erkennbar erweitern, dass Face-to-Face-Kontakte, die für die Lebensqualität und das Wohlbefinden so wichtig sind, wieder möglich werden.

Zudem ist es notwendig, dass in den Einrichtungen ein umfassendes, auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen abgestimmtes Angebot zur geistigen, körperlichen, emotionalen, ästhetischen, spirituellen und sozialkommunikativen Aktivierung entwickelt und vorgehalten wird.

Hier könnten durchaus bürgerschaftlich engagierte Personen angesprochen werden, die sich an der Ausrichtung solcher Angebote beteiligen – dies auch gegen Entlohnung. Entsprechende Kosten müssten von der Pflegeversicherung getragen werden, deren Aufgabe ja auch darin besteht, Maßnahmen zu fördern, die zum Rückgang der Pflegebedürftigkeit beitragen bzw. vermeiden, dass die Pflegebedürftigkeit zunimmt.

Welche Entscheidung treffen Sie als Mitglied des Deutschen Ethikrats, wenn es darum geht, zwischen der Würde eines Menschen und seinem gesellschaftlichen Nutzen abzuwägen?

Kruse: Eine ganz klar auf die Würde des Menschen bezogene Entscheidung! Die Würde eines jeden Menschen ist ausdrücklich anzuerkennen, ohne dabei eine Unterscheidung zwischen Einzelnen nach ihrem gesellschaftlichen „Stand“ vorzunehmen.

Für die Impfstrategie bedeutet dies, diejenigen Menschen zu identifizieren, die in besonderer Weise durch die Pandemie gefährdet sind, bei denen als Ganzes betrachtet die Risiken am höchsten sind (trotz großer Unterschiede innerhalb einer Gruppe, wie ich schon betont habe).

Und hier sind zum einen Mitarbeiter*innen in den Versorgungs- und Bildungssystemen sowie Menschen im hohen Alter als besonders gefährdete Personen anzusehen, bei denen zuerst eine Impfung erfolgen sollte. Hinzu treten Menschen, bei denen Vorerkrankungen mit dem Risiko eines dramatischen Covid-19-Verlaufs assoziiert sind.

Wie kann der Dialog zwischen den Generationen gefördert werden?

Kruse: Gerade in Zeiten der Pandemie zeigt sich: Kein Mensch ist eine Insel, sondern Teil eines großen Ganzen. Diese Haltung müssen wir leben. Im Austausch zwischen den Generationen kann Verständnis füreinander wachsen und gegenseitige Nähe entstehen.

Dieses Verständnis ist ja durchaus in Kleinen schon gegeben; innerhalb von Familien sowie in Strukturen bürgerschaftlichen Engagements wird es vielfältig gelebt. Aber das große Potenzial der intergenerationellen Beziehungen erkennen wir noch nicht wirklich.

Darin sehe ich zum Beispiel einen Auftrag und eine große Chance für die Kommunen – nicht nur als Gebietskörperschaften, sondern auch als Bürgerschaften – sowie von Verbänden, Vereinen und Gemeinden. Wir sollten uns an erfolgreichen Projekten in anderen (zum Beispiel nordeuropäischen) Ländern ein Beispiel nehmen, die die intergenerationellen Beziehungen zu einer nationalen Kampagne gemacht haben. Auch in den Medien müssten noch deutlich mehr Impulse für den Dialog zwischen den Generationen gegeben werden.

„In Deutschland neu denken“ ist das Motto des Roman Herzog Instituts. Was sind Ihre Handlungsempfehlungen, um in einer alternden Gesellschaft das Alter neu zu denken?

Kruse: Besondere Bedeutung messe ich hier dem ideellen Humanvermögen alter Menschen bei: das Lebenswissen, das Expertenwissen, die reflektierten Erfahrungen, die Erkenntnisse alter Menschen, schließlich das Mitverantwortungsmotiv gegenüber jungen Menschen wie auch gegenüber der Gesellschaft als Ganzes.

Das sind eindrucksvolle Potenziale des Alters, die wir in der Arbeitswelt wie auch im zivilgesellschaftlichen Bereich stärker berücksichtigen sollten, als wir dies derzeit tun.

© Roman Herzog Institut e.V.