von Volker Brühl
Die Welt befindet sich seit Jahren in einem wachsenden Spannungsfeld zwischen liberalen Demokratien in ihren unterschiedlichen Ausprägungen auf der einen Seite und autoritären Regimen auf der anderen Seite. Demokratische Staaten müssen bei der strategischen Gestaltung ihrer Beziehungen zu Autokratien berücksichtigen, dass diese sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Sie können wie in China auf einer zentralistischen Parteidiktatur unter Führung eines Präsidenten beruhen. Russland sieht sich zwar als föderalen, demokratischen Rechtsstaat, ist aber faktisch nach herrschender Auffassung eine Autokratie, die stark auf den Präsidenten und seinen engsten Führungszirkel ausgerichtet ist. Hinzu kommen dynastieähnliche diktatorische Regime, die auf tradierten Machtstrukturen und einem starken militärischen Drohpotenzial nach innen und außen basieren (Nordkorea, Syrien). Andere Staaten, die durch religiös-fundamentalistische Einflüsse und diktatorische Elemente geprägt sind, weisen ebenfalls autokratische Züge auf wie zum Beispiel der Iran oder fragile Staaten, die man am ehesten als Theokratien bezeichnen könnte (zum Beispiel Afghanistan). Schließlich sind auch Monarchien wie Saudi-Arabien oder Katar zu nennen.
Autokratien zeichnen sich aufgrund des Fehlens demokratischer Grundprinzipien durch eine Missachtung von Menschenrechten, eine starke Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und Bildungschancen sowie nicht-marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnungen aus. Denn wesentliche Elemente einer (Sozialen) Marktwirtschaft sind mit einer Autokratie unvereinbar. Vor diesem Hintergrund kann man die Frage nach dem geeigneten Umgang mit Autokratien zwar mit einigen grundlegenden Prinzipien beantworten, auf deren Grundlage die Wertegemeinschaft liberaler Demokratien agieren sollte, aber die Besonderheiten des Einzelfalls spielen in der konkreten Gestaltung von Politik eine große Rolle.
Für Demokratien stehen eigene Sicherheitsinteressen im Verbund mit den jeweiligen Bündnispartnern, das Eintreten für die aus Sicht demokratischer Staaten unveräußerlichen Menschenrechte (humanitäre Verantwortung) sowie die Wahrung ökonomischer Interessen häufig in einem Spannungsfeld zueinander. Wie stark diese Ziele miteinander in Konflikt stehen können, wird vor allem in geopolitischen Krisensituationen wie dem Ukrainekrieg, aber auch dem schwelenden Konflikt um Taiwan sowie regionalen Konflikten wie in Syrien oder im Iran deutlich.
Nach Auffassung des Autors lassen sich die sicherheitspolitischen und humanitären Verpflichtungen zum Beispiel zur Sicherung der universellen Menschenrechte beziehungsweise des Völkerrechts umso besser durchsetzen, je unabhängiger die eigene wirtschaftliche Situation von der jeweiligen Autokratie ist. Ein gutes Beispiel für einen solchen Zielkonflikt ist die Gestaltung der Beziehungen zu China. Jeder Staatsbesuch einer hochrangigen Politiker:in stellt einen Spagat zwischen dem Einsatz für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in China und der Förderung der Wirtschaftsbeziehungen zur weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft dar. Allein Deutschland exportiert Waren im Wert von mehr als 100 Milliarden Euro (2022) nach China. Mehrere Millionen Arbeitsplätze in der EU hängen an den Exporten nach China. Dies gilt auch umgekehrt, aber China ist bestrebt, seine Abhängigkeit vom Ausland durch die „Dual-Circulation-Strategie“ weiter abzubauen. Daher dürfte die EU mittelfristig deutlich abhängiger von China werden als umgekehrt. Die USA haben jüngst mit dem Inflation Reduction Act ein Maßnahmenpaket beschlossen, das vor allem die wirtschaftliche Bedeutung Chinas für die USA reduzieren soll. Allerdings besteht bei solchen Maßnahmen die Gefahr, dass man den so Sanktionierten in die Arme anderer Koalitionspartner treibt. Die befürchtete weitere Annäherung von China und Russland ist ein aktuelles Beispiel.
Was bedeutet dies für den Umgang demokratischer Staaten mit autokratischen Regimen?
Sicherheitspolitische Interessen
Eine klare Verteidigungsstrategie aus der Position der Stärke ist sicher eine Lehre aus der Zeitenwende. Das Aufrechterhalten des politischen Dialogs auf allen Ebenen auch und vor allem unter Einbeziehung oppositioneller Kräfte und NGOs ist essenziell. Zudem muss perspektivisch eine Stärkung der internationalen Organisationen – allen voran der UNO – erfolgen. Bekanntlich sind durch die bestehenden Governance-Strukturen die Handlungsmöglichkeiten des UN-Sicherheitsrates begrenzt. Auch die Befugnisse des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs sind limitiert. Eine Reform der supranationalen Zuständigkeiten ist nur langfristig möglich, da die betreffenden Akteure einen solchen Reformprozess blockieren können. Andererseits kann man durchaus über eine Ausweitung der Befugnisse der WTO und des IMF nachdenken. Hinzu kommt die Entwicklung einer Cyber-Security-Strategie, da die jüngsten Erfahrungen zeigen, wie gefährlich hybride Formen der Kriegsführung sein können.
Reduzierung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Autokratien
Wohin starke (einseitige) Abhängigkeiten führen können, zeigt die jüngste Energiekrise, die vor allem durch die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten aus Russland ausgelöst wurde. Der Autor stellt die These auf, dass eine Dezentralisierung der ökonomischen Beziehungen eine wichtige Voraussetzung für Demokratien ist, ihre sicherheitspolitischen Interessen und ihren Einsatz für Menschenrechte, Völkerrecht und humanitäre Hilfe aus einer Position der ökonomischen Stärke zu gewährleisten. Denn einseitige Abhängigkeiten erhöhen das Erpressungspotenzial von Autokraten, die letztlich zu einer Destabilisierung der Weltgemeinschaft führen können. Die folgenden Ansatzpunkte sollten nach Auffassung des Autors diskutiert werden.
1. Reduzierung der Abhängigkeit von China
Nur wenn die wirtschaftliche Abhängigkeit des Westens von China deutlich reduziert wird, kann es gelingen, China selbst zu Reformen zu bewegen. Für die Autoindustrie und den Maschinenbau stellt China den größten Absatzmarkt dar. Gerade deshalb ist es wichtig, neue Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und etwa Indien, Indonesien, Südamerika und Afrika zu schließen. Dort liegen in den nächsten 25 Jahren die größten Wachstumspotenziale. Auch eine veränderte Form des TTIP-Abkommens mit den USA wäre denkbar.
2. Förderung strategisch relevanter Schlüsselindustrien
Bekanntlich war Deutschland in den 2000er Jahren führend in der Solartechnologie. Fehlentscheidungen haben dazu geführt, dass China inzwischen Technologie- und Produktionsweltmeister von Solaranlagen ist. Ähnliche Entwicklungen drohen bei Windkraftanlagen und beim grünen Wasserstoff. Hier bedarf es einer europäischen Initiative, um entsprechende Cluster in der EU anzusiedeln. Auch die Abhängigkeit von Halbleiter-Importen muss abgebaut werden.
3. Investitionen müssen auf Reziprozität beruhen
Ausländer dürfen in bestimmten Industrien in China nicht investieren, in anderen nur unter Einhaltung strenger Local-Content-Vorschriften. Einzigartige Technologieträger wie der Robotikspezialist Kuka sind bereits nach China verkauft worden. Künftig sollte hier das Prinzip der Reziprozität stärker Beachtung finden. Das sollte auch für Local-Content-Vorschriften für chinesische Investitionen in der EU gelten. Dies würde Know-how-Verlusten vorbeugen und lokale Wertschöpfung sichern.
4. Stabilisierung der Lieferketten
Wie abhängig der Westen von China inzwischen ist, hat die Covid-Pandemie deutlich gezeigt. Wichtige Wirkstoffe in der Pharmaindustrie werden kaum noch in der EU produziert. An den Mangel an Alltagsmasken und anderen Hygieneartikeln sei erinnert. Wichtige Zulieferteile werden hierzulande nicht mehr hergestellt. So vorteilhaft die weltweite Arbeitsteilung grundsätzlich sein mag, Demokratien müssen eine gewisse Autonomie in wichtigen Sektoren behalten.
5. Klimaschäden müssen geahndet werden
China, aber auch Indien, Russland und Brasilien verhindern seit Jahren, dass die Ziele des Pariser Abkommens erreicht werden. Dies kann man nur ändern, wenn man das klimaschädliche Verhalten dieser Länder durch entsprechende Abgaben sanktioniert. Dies setzt Anreize für mehr Klimaschutz und sorgt für fairen Wettbewerb.
Informationen zum Autor:
Professor Dr. Volker Brühl ist seit 2013 Professor für Banking und Finance und Geschäftsführer des Center for Financial Studies an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Außerdem ist er seit 2017 Mitglied des Vorstands des Green and Sustainable Finance Cluster Germany. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Finanzsektor. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet.