von Tobias J. Knoblich
I.
Unsere Demokratie ist müde, individualisiert und zerrissen. Die politischen Parteien repräsentieren das Volk nicht mehr, sie entwickeln ihre Programmatik mit immer weniger Mitgliedern und damit weitgehend ohne direkte Beteiligung und Zuneigung. Das Volk gestaltet Demokratie fast ausschließlich beim Wählen: distanzierte Urnendemokratie. Viele Menschen missverstehen inzwischen Demokratie als persönlichen Verfügungsrahmen: Demokratie ist das, was mir nutzt, was ich mir nehme, was mir zusteht. So laufen auch viele Beteiligungsprozesse. Ich bewerte die Dinge nach dem Nutzen für mich, beziehe sie nicht auf ein größeres Ganzes, für das ich „Partei ergreife“. Ich allein bin das Maß. Bei allem bürgerschaftlichen Engagement: Gesellschaft ist meine Ausstattung – oft eine Zumutung.
Doch Demokratie gedeiht nicht konsumtiv, sondern nur durch gemeinsames Gestalten, Ringen in Kontroversen. Sie setzt Bündnisse, aktiven Widerstreit und vor allem wirkliches Interesse aneinander voraus. Demokratie begrenzt auch, lässt Ambivalentes zu, Dinge, die mich nicht repräsentieren. Und sie bekommt sehr viel von mir: Respekt, Anerkennung ihrer Regeln, mich als ihren Teil, nicht umgekehrt. Ich verkörpere ihre Werte.
Eine gestörte Kollektiverfahrung führt zu zwei falschen Auffassungen von Demokratie. Einerseits kann alles, was sie herausfordert und in Spannung versetzt, als Bedrohung empfunden werden. Dann gerät sie zum Patienten, für dessen Wohl man sich einsetzt. Andererseits soll sie als Festung verteidigt und abgeschirmt werden. In diesem Fall missverstehen wir sie als Privileg, als Hort des Wohlstands und der unverrückbaren Identität.
Wir stellen die Demokratie in beiden Fällen still. Ihr Wesen aber ist die Lebendigkeit, Instabilität und permanente Sorge um eine fluide, flexible Zone des Gemeinsamen. Ist das Gemeinsame allzu sehr in Egoismen und Gruppeninteressen zerrissen, wird es auch die Demokratie. Ihre vitale Spannung setzt echte Verbindungen voraus.
II.
Als Rückseite und Schadstelle der Demokratie scheint das Autokratische auf, das Spannungen aufheben und das Maß der starken Hand an deren Stelle setzen will. Die weltweite Zunahme von autokratischen Tendenzen und Populismen hängt wesentlich mit einer Krise der Demokratie zusammen. Selbst eine sehr alte, ja die am längsten bestehende Demokratie auf der Welt, entwickelt autokratische Züge in Verbindung mit sturem Unilateralismus, also der Konzentration auf die eigenen Interessen im Falle von Kooperation: die der USA.
Welche Signale senden die liberalen Demokratien aus? Dass sie Beziehungsprobleme haben. Dass sie mit Veränderungsprozessen und komplexen Problemen schwer umgehen können, weil sie träge sind und sich gleichwohl perfekt wähnen; die Perfekten bekommen alles hin, haben ihr Modell gefunden. Dass sie trotz aller kosmopolitischen Gesten an Identitätskrämpfen leiden. Und schließlich: dass ihnen die kommunikative Selbstregulation entgleitet. Die Fehlstellen aber, das sind immer die anderen, die Radikalen, die Anti-Demokraten, die Nazis.
Mindestens drei Schlagworte spielen in dieser Gemengelage Hauptrollen: Globalisierung, Re-Nationalisierung und Digitalität. Sie verkörpern wichtige Elemente in einer Transformationsdynamik, die in Hinblick auf den Klimawandel bis an die planetaren Belastungsgrenzen reicht. Bei unseren Regulierungsversuchen geht es immer um Öffnungs- und Abschließungsprozesse:
Wie offen, lern- und entwicklungsfähig ist eine liberale Gesellschaft – wie reproduziert sie ihre identitären Grundlagen? Wie pluralisiert sie Kommunikation – und wie „kanalisiert“ sie Informationen? Die Liberalität des Netzes ist nur dann produktiv und demokratiefördernd, wenn es eine gelingende gesellschaftliche Rückbindung gibt. Öffnen und Schließen bleiben zentrale Mechanismen demokratischer Praxis und Politik. Andernfalls zerfließt alles.
Für die Staatsform der Demokratie gilt dasselbe: Demokratie gibt es nur gefasst, innerhalb staatlicher Gebilde. Allenfalls größere supranationale Einheiten wie Europa können eine neue Entwicklungsstufe darstellen, aber auch sie haben ein Außen. Demokratie ist nicht an sich universalisierbar – doch erwarten wir nicht aufgrund unserer Überzeugungen, dass sie das Normalmodell von Gemeinschaft sei, auf das alle einschwenken müssten? Das verstellt uns den Blick für Differenz und konstitutive Spannung zwischen menschlichen Gesellschaften. Die Welt wird nie so sein, wie wir sie uns idealiter vorstellen. Wir müssen sie auch aushalten, stabile Brücken bauen. Toleranz beginnt beim produktiven Umgang mit Widersprüchen. Das Diktum „Wandel durch Annäherung“ in der Deutschlandpolitik ist ein historisches Beispiel dafür.
III.
Das Versprechen einer liberalen Demokratie ist ihre Großzügigkeit, das Aushalten von interner und externer Differenz und Vielfalt – Letztere ist inzwischen sogar Völkerrecht. Aus Vielfalt und Differenz erst entsteht Kreativität, Kraft zur Selbsterneuerung. Kreativität birgt jedoch immer auch Chaos; gleichwohl handelt es sich um eine evolutive Kraft. Nietzsche sagt bekanntermaßen: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
Die große Kapazität dynamischer Demokratien ist es, auf Wandlungsfähigkeit programmiert zu sein, nicht Schematisierung, Wohlstandsrahmung. Lange galt: Demokratie plus Soziale Marktwirtschaft gleich universeller Fortschritt. Wir müssen erkennen, dass sich diese einfache Formel schon aufgrund des globalen Ressourcenverbrauchs nicht universalisieren lässt. Sie steht auch für den Aggregatzustand unserer Demokratie: Dieser scheint zu fest, um die verkürzten Antworten der autokratischen und populistischen Vereinfacher mit klugen Verfahren und Geschick zu parieren. Wir sind selbst dort angekommen, wo schnelle Antworten gegeben, Probleme „abgeräumt“ oder Situationen „entschärft“ werden – bei kurzkettigen Reaktionen in Zeiten multipler Verwerfungen, die Konzepte, Weitsicht und vor allem Bindekräfte brauchen.
Was uns nicht behagt, wird indes abgespalten und pauschal als Gegenstück der Demokratie indiziert, bevor es durch die guten Säfte demokratischer Praxis verdaut werden kann, so auch die AfD. Damit fördern wir aktiv Demokratieverdrossenheit und steigern die Sehnsucht nach der rüden Geste, der starken Hand. Vielmehr sollten wir radikale Kräfte im Rahmen geltender rechtsstaatlicher Normen einhegen und nur dort erbittert bekämpfen, wo sie mit Beschlussvorlagen oder aktivem Handeln Demokratie direkt schädigen. Autokratie wird gefördert, wo eine Opfermentalität entsteht, nicht die Verfahren, sondern die abgrenzenden Haltungen Demokratie erneuern sollen. Haltung aber entsteht durch Handlung. Liberale Demokratie entwickelt sich nicht als Glaubens- oder Bekenntnisgemeinschaft, sondern nur dank Toleranz und Überzeugungsarbeit, die alles anpackt – aber freilich nicht mit allen paktiert.
Informationen zum Autor:
Dr. phil. Tobias J. Knoblich ist Kulturwissenschaftler, Kulturmanager und Publizist. 2016 promovierte er im Fach Kulturwissenschaft, Stiftung an der Universität Hildesheim. Er ist seit 2019 als Kommunaler Wahlbeamter, Beigeordneter für Kultur und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Erfurt (parteilos) tätig. Zudem ist er Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V. in Bonn.