Wie sollen liberale Demokratien autokratischen Herausforderungen begegnen?

ein Impulsbeitrag von Mark McAdam

Der Liberalismus ist im Krisenmodus. Die Finanzkrise 2008, die europäische Staatsschuldenkrise, die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Das Aufbäumen populistischer Strömungen in weiten Teilen der Welt – Orbán, Trump und Bolsonaro. Brexit. Corona und globale Pandemie. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Sanktionen, Neuausrichtung von Lieferketten, Inflation. Parallel zu diesen Entwicklungen findet eine weitere besorgniserregende Dynamik statt: Die Anzahl liberaler Demokratien nimmt laut Freedom House seit 2006 weltweit ab. Aktuell bestätigt sich die Vorhersage des Politikwissenschaftlers Fareed Zakaria, der bereits Ende der 1990er Jahre davor warnte, dass sich immer mehr Länder in illiberale Demokratien – eine Vorstufe des rein Autoritären – verwandeln würden.

Weder schotten sich illiberale Demokratien und Autokratien nach nordkoreanischem Vorbild vollständig von der internationalen Staatengemeinschaft ab, noch lassen sie die Wohlfahrt ihrer Bürgerinnen und Bürger komplett außer Acht. Neue Logiken und Tendenzen sind jedoch in der Anziehungskraft des Illiberalen erkennbar. Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sollen geschwächt und gegen eine starke Führung, die vorgibt, den Willen des Volkes umzusetzen, ausgetauscht werden. Freie Meinungsäußerung und politischer Pluralismus sollen zunehmend einer homogenen Nationalidentität weichen. Ökonomische Integration und marktwirtschaftliche Prinzipien fallen dem Versprechen der Realisierung nationaler Interessen durch alternative Wirtschaftsordnungen zum Opfer.

Zunehmende Unzufriedenheit mit liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratien hat vor allem seitens ihrer Befürworter mit einem exklusiven Fokus auf die materiellen Facetten des Lebens zu tun. Zahlreiche Staaten haben genau das – materiellen Wohlstand – für ihre Bürgerinnen und Bürger erreicht. In der Tat ist die Institutionalisierung liberaler Prinzipien in der praktischen Politik eine wesentliche Errungenschaft westlicher Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Auf ein funktionsfähiges Wirtschaftssystem hinzielende Politiken – unter anderem Wettbewerbsrecht, unternehmerische Haftung, wirtschaftliche Offenheit – stellten Maßnahmen dar, deren Ausrichtung ein friedliches Miteinander und materiellen Mehrwert garantieren sollten. Die Erfolgsgeschichte liberaler, marktwirtschaftlicher Demokratien in den letzten sieben Jahrzehnten ist unstrittig: Inklusives, die Gesellschaft in Gänze einschließendes Wirtschaftswachstum ging mit der Ausübung bürgerlicher Freiheiten einher.

Doch trotz dieser Errungenschaften sind illiberale Strömungen im Kommen. Demokratiemüdigkeit kommt zu einem Zeitpunkt auf, zu dem gleichzeitig das Illiberale zunehmend Anziehungskraft ausübt. Für liberale Demokraten ist es unzureichend, sich lediglich auf vergangenen Erfolgen auszuruhen und darin die Lösungen für gegenwärtige Probleme zu sehen.

Vor allem erfordern Antworten auf die Krise des Liberalismus eine Adressierung ideeller Werte. Der Fokus auf materiellen Wohlstand greift zu kurz, denn etliche unserer gegenwärtigen Vielfachkrisen sind mit der Frage nach Identität verwoben: Wer ist man als Bürgerin oder Bürger? Wozu gehört man? Wie lebt man unter Bedingungen globaler Interdependenz?

Lösungsentwürfe für die Herausforderungen unserer Zeit erfordern vor allem eine Anerkennung ebendieser Fragen. 1950 formulierte Alfred Müller-Armack die Idee der sozialen Irenik – „über die Möglichkeit einer die Weltanschauungen verbindenden Sozialidee“. Nichts Geringeres ist heute gefragt. Was bedeutet das für unser drittes Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts? Es heißt schlussendlich, dominante Gedankenströme unserer Gesellschaften miteinander zu verbinden und einen Kompromiss zwischen ihnen zu suchen. Konkret heißt das: politische und wirtschaftliche – ja, sogar kosmopolitische – Offenheit; eine Sensibilisierung für die regionalen Auswirkungen globaler Interdependenzen; die Sicherstellung, dass fortwährender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel für weite Teile der Gesellschaft tragbar bleibt.

Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt: Auf materieller Ebene können Autokratien nicht mit den Erfolgen liberaler Demokratien konkurrieren. Die Anziehungskraft des Illiberalen, die im Kontext von Demokratiemüdigkeit dennoch zunimmt, hat vor allem mit den ideellen Versprechen anti-demokratischer Bewegungen zu tun. Sie suggerieren, dass sie durch starke Führung und die Herausbildung einer homogenen Gesellschaft die Frage nach Identität beantworten können.

Man sollte ihnen die Beantwortung dieser Frage nicht überlassen. Verfechter liberaler, marktwirtschaftlicher Demokratien müssen an dieser Stelle ansetzen, um ein liberales Ethos für demokratische Gesellschaften annehmbar zu machen. Für die praktische Politik heißt das: Kompromisse zwischen unterschiedlichen Wertevorstellungen fördern und fordern.

Im Zeitalter der Vielfachkrise ist es zentral, dass sich liberale Demokratien von einem Politikmodus des „Reagieren-auf-Krise“ abwenden und stattdessen die Möglichkeiten solcher Kompromisse in den Blick nehmen. Um es mit den Worten Walter Euckens zu sagen: „Die Meinungen der Menschen, ihre geistige Haltung, sind für die Richtung der Wirtschaftspolitik vielfach wichtiger als die wirtschaftlichen Tatsachen selbst.“ Diese Einsicht beschränkt sich nicht auf wirtschaftliche Fragestellungen; sie ist ebenfalls grundlegend für die Zukunft liberaler Demokratien.

 


 

Informationen zum Autor:

Dr. Mark McAdam ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, Post-Doc seit 2023, an der Universität Siegen, Zentrum für ökonomische Bildung. 2022 promovierte er zum Dr. rer. pol. an der Universität Witten/Herdecke. Zu seinen Forschunginteressen zählen Wirtschaftspolitik, Internationale Politische Ökonomie, Wirtschafts- und Ideengeschichte sowie Institutionenökonomik.

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