Demokratie ist eine Zumutung

Dieses Eingeständnis kann befreiend sein

von PD Dr. Martin Beckstein

Autokratismus fordert die Demokratie heraus – machtpolitisch und ökonomisch. Doch die Auseinandersetzung findet nicht allein auf den Schlachtfeldern der internationalen Politik oder dem Weltmarkt statt, sondern auch in den Köpfen der Menschen.

Autokratische Herausforderungen sind vielfältig: von militärischen Eingriffen und Desinformationskampagnen durch Länder wie Russland bis zum Aufstieg populistischer Parteien und dem Abbau rechtsstaatlicher Strukturen in liberalen Demokratien.

Jedoch stehen Demokratien nicht nur gegenwärtig vor autokratischen Herausforderungen, sie haben dies stets getan. Autokratismus ist das Gegenstück zur Demokratie. Ohne dieses ständige Spannungsverhältnis lässt sich die aktuelle Herausforderung nicht vollständig begreifen.

Im Gegensatz zu Demokratien, die auf Mitsprache basieren, sind Autokratien Kommunikationsregime. Für sie ist es essentiell, dass ihre Erzählungen als glaubwürdig wahrgenommen werden. Ihr Ziel muss sein, von den eigenen Leuten geliebt und von den Gegnern gefürchtet zu werden. Wenn ihre Taktik aufgeht, kapitulieren Demokraten, bevor es überhaupt zum Kräftemessen kommt.

Zwei gängige Reaktionen auf autokratische Herausforderungen führen deshalb in die Irre: Panikmache und Utopismus. Panikmache verschlimmert die Lage, da Autokratismus ja genau auf die Einschüchterung ihrer Widersacher hofft. Die Skandalisierung des Populismus und die oft übertriebene Aufmerksamkeit, die ihm auch hierzulande geschenkt wird, sind ein gutes Beispiel. Von der Lautstärke, mit der die Populisten Tabubrüche inszenieren, sollte man schließlich auf eine gewisse Harmlosigkeit schließen. Hunde, die bellen, beißen nicht.

Auch ist bemerkenswert, wie oft die Problemlösungsfähigkeiten autokratischer Regime überschätzt werden. Zu Beginn der Corona-Pandemie glaubten viele, China könne nach Belieben durchregieren. Wie sich herausstellte, brachte die Missachtung von Grundrechten keineswegs den erhofften Erfolg.

Der zweite Irrweg besteht im Drängen auf Einlösung des demokratischen Versprechens. Das Ideal einer Herrschaft unter Freien und Gleichen, der effektiven Chancengleichheit und sozialen Gerechtigkeit übernimmt wichtige Funktionen in unserem realexistierenden Demokratismus – als Zielvorgabe aber taugt es nicht. Das demokratische Versprechen ist nicht nur uneingelöst, sondern uneinlösbar. Wer sich an der Vorstellung der Annäherung ans Ideal berauscht oder gar dessen Erreichung in Aussicht stellt, nährt Frustration und Unzufriedenheit unter den Bürgern.

Um der autokratischen Herausforderung zu trotzen, gilt es, zwischen der Skylla der Panikmache und der Charybdis des Utopismus hindurchzunavigieren. Wie lässt sich das bewerkstelligen? Es bedarf gewiss vielfältiger Maßnahmen. Ein wichtiger Schritt besteht jedoch darin, an die Stärken der Demokratien zu erinnern. Die politikwissenschaftlichen Befunde sprechen in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache: In Ländern mit allgemeinen, freien, gleichen, geheimen und regelmäßigen Wahlen gibt es mehr Wirtschaftswachstum, weniger Hungersnöte, weniger Menschenrechtsverletzungen und weniger Korruption als anderswo.

Zu einer glaubwürdigen Darstellung der eigenen Stärken gehört allerdings auch die Größe, Schwächen offen einzugestehen. Dazu zählen die auf niedrigem Niveau stagnierende politische Bildung vieler Wähler, der oft fehlende Weitblick der auf wenige Jahre gewählten Repräsentanten, die zunehmende Moralisierung und Polarisierung der politischen Debatte sowie der wirklich begrenzte Unterhaltungswert des Politainments.

Churchill traf den Nagel auf den Kopf: Demokratie ist keine kitschige Erfolgsstory. Sie ist nicht die beste Regierungsform, sondern die schlechteste – nur eben mit Ausnahme aller anderen.

Ein offenes Eingeständnis, dass Herrschaft eine Zumutung und Politik ein notwendiges Übel ist, statt die Erwartungen an eine freiheitliche Ordnung in die Höhen zu schrauben, könnte befreiend wirken.

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