
Fußballfunktionäre sind moralische Vorwürfe gewohnt und müssen sie aushalten. Neu war mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2022, dass plötzlich auch Fans und Spieler unter Druck gerieten, eindeutig Stellung zu beziehen zur Ausrichtung und Situation im arabischen Emirat Katar. Keine Meinung konnte man nicht haben.
Die „Causa Katar“ ist keineswegs trivial. Sie geht zurück auf die selbst in der Ethik kontrovers diskutierte Frage, wie man sich entscheiden soll, wenn verschiedene Wertesysteme aufeinandertreffen.
Moralischer Universalismus ...
Der moralische Universalist geht davon aus, dass seine Normen absolute Gültigkeit besitzen. Er erwartet, dass andere – Menschen, Gesellschaften, Kulturen – sie übernehmen. So geschehen, als große Teile unserer Gesellschaft moralische Forderungen an den Gastgeber der Weltmeisterschaft, das Golfemirat Katar, stellten.
Freilich ist nichts Schlechtes daran, unterdrückte Minderheiten aus ihrer Isolation befreien zu wollen, für die Gleichberechtigung von Frauen einzutreten oder für fair bezahlte und sichere Arbeitsplätze. Im Gegenteil. Dennoch empfand die westliche Welt die arabische Kritik als moralische Bevormundung und Arroganz, was zur Folge hatte, dass sie mehr gespalten als zusammengeführt hat – auf kultureller und individueller Ebene.
... trifft auf moralischen Relativismus
Der moralische Relativist entzieht sich dieser Schwierigkeit, indem er anderen nicht seine Werte aufzwingt. Er respektiert das Anderssein des anderen und hält den Gedanken aus, dass es keine universell gültigen Normen gibt. Für ihn gibt es lediglich angemessenes und unangemessenes Verhalten – je nach Umfeld.
Etwas mehr moralischer Relativismus hätte der öffentlichen Debatte um die Weltmeisterschaft sicher gutgetan. Dennoch ist es zu bequem, sich mit Verweis auf Werterelativität nicht mehr um Nöte und Ungerechtigkeiten zu sorgen. Der Vorwurf der Beliebigkeit ist ebenso berechtigt wie der Hinweis, dass Menschenrechte nicht relativ sind. Allein deren Existenz lässt vermuten, dass es Grundwerte gibt, über die sich ein Großteil der Menschheit einig ist – wenngleich diese unterschiedlich interpretiert werden.
Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit
Aber ist es zielführend, mit dem moralischen Zeigefinger jene auszugrenzen und abzuwerten, die wir eigentlich für unsere Werte gewinnen möchten? Psychologisch scheint dies unwahrscheinlich. Zudem sind althergebrachte Sitten und Weltbilder eher starr. Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit, genauso wie die mit ihm einhergehenden Änderungen individueller Einstellungen. Wir benötigen also Geduld und Demut sowie die Fähigkeit zu Selbstkritik und Beharrlichkeit.
Es ist wichtig, miteinander in den Dialog zu treten und im Gespräch zu bleiben, beispielsweise im Human Rights Council der Vereinten Nationen, wo Katar Mitglied ist. Auch die Fußball-WM war eine – leider verpasste – Chance, um Normen mit der arabischen Welt abzugleichen und sich einander zu nähern.
Konstruktive Problemanalyse
Anstatt unnötig zu moralisieren, sollten wir eine ergebnisorientierte Herangehensweise wählen, indem wir die unterschiedlichen Interessen identifizieren und berücksichtigen, Ängste ausmachen und tiefere Gründe für Menschenrechtsverletzungen erforschen. Hier können Psychologie, Soziologie, Ökonomie und andere Fachbereiche Erkenntnisse bereitstellen, die als Ausgangspunkt für neue praktische und praktikable Ansätze dienen. Auch andere gesellschaftliche Probleme – Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Corona – könnten so zielführender angegangen werden.
Lösungen jenseits vom Entweder-Oder
Es wäre hilfreich, Vertreter verschiedener Richtungen würden aufhören, die Moral zu nutzen, um sachliche Argumente zu verdunkeln. Zudem erscheint unsere herkömmliche Moral unzeitgemäß in unserer komplexen Welt. Denn sie schränkt Optionen von vornherein ein und lässt andere Wege aus dem Blick geraten. Die Angst vor Widersprüchen und das Festhängen in einer binären Entweder-oder-Logik blockieren ohnehin. Dabei treibt der Antagonismus den Fortschritt an, es gibt selten nur eine akzeptable Lösung.
Etwas kann gut und schlecht zugleich sein und manchmal führen vermeintliche Umwege zum Ziel. Selbst die Moralphilosophie beantwortet ihre Frage „Was soll ich tun?“ facettenreich. Es ist nützlich, sich in Anbetracht eines weiten Felds an Möglichkeiten auf das zu konzentrieren, was funktionieren kann. Was nicht funktioniert, hat sich am Beispiel der Weltmeisterschaft 2022 gezeigt.
Yvonne Thorhauer ist Professorin für Wirtschaftsethik an der accadis-Hochschule
In dem RHI-YouTube-Kanal können Sie mehr von und über Yvonne Thorhauer erfahren. In den RHI-Kontexten spricht sie über „Ethische und moralische Grundsätze in der Ökonomie“ und im RHI-Podcast gibt die zweifache deutsche Meisterin im Leichtkontakt Kickboxen Einblick in ihren Werdegang.