Klaus Naumann
Kurzportrait
Dr. h.c. Klaus Naumann, General a.D., geboren 1939 in München, trat 1958 in die Bundeswehr ein und stieg nach Verwendungen in der Truppe, Verwendungen im Verteidigungsministerium und in der NATO Ende 1991 von der Position des Kommandierenden Generals des I. Korps in Münster zum Generalinspekteur der Bundeswehr auf. In seine Amtszeit bis Februar 1996 fielen die Reorganisation und Reduzierung der Bundeswehr, die Auflösung und Teilintegration der Nationalen Volksarmee der früheren DDR, die innere Umstellung der Bundeswehr von Heimatverteidigung auf Einsätze im Rahmen von UN und NATO und die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr in Kambodscha, Somalia, Georgien, im Irak und auf dem Balkan. Von Februar 1996 bis Mai 1999 war Naumann als Vorsitzender des Militärausschusses der oberste Soldat der NATO. In dieser Zeit wurde die bis Herbst 2010 gültige Strategie der NATO erarbeitet, es begann die Partnerschaft für den Frieden und die Zusammenarbeit mit Russland, die NATO nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn auf und es begannen die Operationen in Bosnien und im Kosovo im März 1999. Nach seiner Versetzung in den Ruhestand im Mai 1999 übernahm er eine Reihe ehrenamtlicher Aufgaben. In Deutschland war dies vor allem die Präsidentschaft der Clausewitz-Gesellschaft und der Deutsch-Britischen Offiziervereinigung. International wurde Naumann unter anderem vom IISS London in dessen Beirat, vom ICRC in Genf als International Advisor und von Kofi Annan in das so genannte Brahimi Panel der Vereinten Nationen berufen, das im Herbst 2000 Vorschläge zur Verbesserung von UN Friedensoperationen vorlegte. Er war dann Mitglied der Internationalen Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität ( ICISS ), die im Dezember 2001 ihren Bericht „The Responsibilty to Protect“ vorlegte. Ab Mitte Oktober 2008 war er Mitglied der International Commission on Nuclear Non-Proliferation and Disarmament. Er ist im Vorstand der deutschen Atlantischen Gesellschaft, war Mitglied des Kuratoriums der Adenauer-Stiftung und war seit 2005 Mitglied des Senats der Deutschen Nationalstiftung. Naumann ist verheiratet, hat mit seiner Frau Barbara eine Tochter und einen Sohn und ist vierfacher Großvater. Er lebt am Südrand von München.
Die internationale strategische Lage – Einschätzungen zu Beginn des Jahres 2024
-
Die allgemeine strategische Lage
Die Welt steht am Beginn der Entwicklung einer neuen Weltordnung.
Ob sie weiterhin eine regelbasierte Ordnung sein wird, ist offen. Kein Versuch in der Geschichte, neue Ordnungen zu schaffen, ist ohne Gewalt abgelaufen. Die Welt muss sich schon deshalb auf anhaltende, gleichzeitige und an verschiedenen Orten stattfindende kriegerische Konflikte einstellen.
Für Europa kommt hinzu, dass die Zeit kooperativer Sicherheit vorbei ist, weil deren Voraussetzung, gegenseitiges Vertrauen, durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin für lange Zeit zerstört ist. Dennoch wird allgemein – vor allem in Deutschland – noch nicht verstanden, dass dies bedeutet, sich nun auf konfrontative Sicherheit einzustellen: Nur Sicherheit gegen Russland bringt Sicherheit vor Russland.
Gegenwärtig ist ein wesentliches Kennzeichen des vergangenen Jahres, welches das blutigste seit 1994 war, dass die Welt eine Auflehnung des globalen Südens gegen den von den USA geführten Westen und gegen die bei uns übliche freiheitliche demokratische Ordnung im Rahmen einer durch die Kraft der Gesetze gesicherten Staatsordnung erlebt hat. Diese Entwicklung wird anhalten und sie wird durch die autokratischen Mächte, vor allem China und Russland, geschürt und genutzt werden, weil sie darin eine Chance sehen, ihre Einflusszonen auszuweiten, auch weil sie irrtümlich glauben, der Abstieg der USA werde andauern. Es ist deshalb auch im Jahr 2024 nicht nur mit dem Anhalten der bestehenden, sondern sogar mit neuen bewaffneten Konflikten zu rechnen.
Mit dieser Lage müssen in unserer westlichen Welt Regierungsorganisationen fertigwerden, die – mit Ausnahme der USA – zwar auf die Bewältigung einer, manchmal auch zweier gleichzeitiger Krisen ausgerichtet sind, nicht aber auf die in Zukunft wohl wahrscheinliche Gleichzeitigkeit mehrerer Krisen, die nahezu alle in ihren Auswirkungen, insbesondere auf Handel und Wirtschaft, globaler Natur sein dürften. Die jüngste Entwicklung im Roten Meer – zugleich ein Beispiel für asymmetrische und hybride Kriegführung, die, obwohl regional ausgeführt, wirtschaftlich globale Folgen hat – kann als Beleg für diese Aussage dienen.
Viele dieser Krisen werden ohne zunächst erkennbare Anwendung unmittelbarer Gewalt geführt werden und sie beginnen vielfach durch mediale Beeinflussung lange vor ihrer Erkennbarkeit durch tradierte Politik. So gesehen, befindet sich die Welt möglicherweise seit Jahren in einem Weltkrieg, ohne dessen Beginn erkannt zu haben oder diese Dimension wahrzunehmen.
Zusätzlich erweisen sich unsere auf Reaktion ausgerichteten und international auf Einstimmigkeit angewiesenen Regierungs- und internationalen Organisationen als wenig geeignet, der Schnelligkeit und Vielzahl der Informationen aus den sozialen Netzwerken gerecht zu werden.
Des Weiteren ist das bevorzugt genutzte, weil oft als einzig anwendbar gesehene Instrument der Sanktionen dringlich zu verbessern. Es fehlt an Überwachung sowie an der Bereitschaft, gegen Sanktionsbrecher vorzugehen und Drittstaaten zu sanktionieren, die durch Umgehungshandel profitieren.
Die Herausforderung schlechthin wird jedoch sein, der Gleichzeitigkeit und Globalität mehrerer Krisen gerecht zu werden, angepasste Regierungsformen und -organisationen zu entwickeln und im Handeln vielfach statt Reaktion auf Prävention und möglicherweise auch Präemption, eventuell auch unter Einschluss von Gewaltanwendung, umzustellen.
Ob und wo das Bewusstsein für diese Notwendigkeiten in den Regierungszentralen vorhanden ist, ist mir nicht bekannt. Ich nehme aber an, man zögert, Änderungen anzupacken – nicht zuletzt, weil dieses Jahr Wahlen in mehr als 70 Ländern dieser Welt bringen wird und davon 4,2 Milliarden Menschen, also etwas mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung, betroffen sein werden.
Manche mögen das einen Test der Demokratie nennen, sollten dann allerdings auch erwähnen, dass von diesen 4,2 Milliarden tatsächlich nur etwa 40 Prozent in Demokratien leben und dass Wahlen ohne rechtsstaatliche Ordnung keineswegs als Beleg von Demokratie dienen können. Wahlen in freien Gesellschaften gewinnt man aber im Allgemeinen nicht mit der Aufforderung, grundlegenden Wandel zu wählen. Das bequeme „Weiter so“ wird vielfach als Schlüssel zum Erfolg gesehen.
Zumindest die westliche Welt wird deshalb mit einer unruhigen globalen Situation und dafür ungeeigneten Instrumenten fertigwerden müssen. Hinzukommen könnte der sich beschleunigende Klimawandel mit der Gefahr zunehmender Naturkatastrophen, die oftmals die ärmsten Länder treffen, die wiederum am stärksten von ungebremstem Bevölkerungswachstum, vor allem in Afrika, geschwächt sein dürften. Ressourcenmangel, Hunger und Wassermangel werden Kennzeichen des kommenden Jahrzehnts sein.
Eine Folge könnte sein, dass in den ärmsten Ländern vermehrt Autokraten dominieren werden, aber auch in unserer westlichen Welt die Tendenz zu illiberalen Regierungsformen zunehmen könnte. Für die Europäische Union könnte das weitere Spaltung und damit wachsenden Einfluss Chinas und Russlands bedeuten.
All diese Entwicklungen treten jedoch in ihrer Gewichtung in den Hintergrund vor der Entscheidung, die am 5. November 2024 in den USA getroffen werden wird. Die Präsidentschaftswahl im unverändert mächtigsten Land der Welt hat mehr als alle vorangegangenen Wahlen wahrhaft globale Bedeutung.
Das Ergebnis der US-Wahlen am 5. November wird nicht nur darüber entscheiden, ob die USA langfristig die einzige globale Macht dieser Welt bleiben werden. Das Wahlergebnis könnte kurzfristig die internationale Lage in allen gegenwärtigen wie künftigen Konflikten dramatisch verändern. Mehr als irgendwo sonst könnte diese Wahl die Sicherheitsarchitektur in Europa beeinflussen.
Sollte Donald Trump gewinnen, dann wird er zwar nicht aus der NATO austreten, weil er dazu eine nicht erreichbare Zwei-Drittel-Mehrheit im Kongress bräuchte. Aber er wird das amerikanische Engagement und vor allem die unersetzbare atomare Garantie, die letztlich sicherheitsentscheidend ist, davon abhängig machen, ob Europa und hier vor allem Deutschland das 2-Prozent-Ziel von 2014, wonach jedes NATO-Mitglied mindestens 2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Verteidigung investieren sollte und das vergangenes Jahr beim NATO-Gipfel in Riga bestätigt wurde, tatsächlich erreicht. Doch auch eine zweite Administration Biden wird den Schwerpunkt der USA nicht in Europa, sondern in Asien sehen.
Der Unterschied dürfte sein, dass das amerikanische Schutzversprechen bei Trump so wanken könnte, dass Putin Versuche unternehmen könnte, seine im Dezember 2021 klar formulierten Ziele in die Tat umzusetzen. Deutschland wie Europa müssen sich deshalb darauf einstellen, dass Russland frühestens ab 2025/26 sehr begrenzte neue Kriege, sozusagen einen Test des Zusammenhalts der NATO, einen größeren Angriff auf europäische NATO-Staaten aber wohl kaum vor 2029/2030 führen könnte.
Nichtsdestoweniger würde bereits ein begrenzter militärischer Erfolg Putins beispielsweise im Baltikum das Ende der NATO wie der EU bedeuten, würde Russland zur Vormacht in Europa machen und aller Voraussicht nach innenpolitische Verwerfungen Richtung Illiberalismus in nahezu allen europäischen Staaten, auch in Deutschland, auslösen.
Das Ziel einer Pufferzone vor Russland wäre damit für Putin erreichbar, die Vorherrschaft der USA auf ihrer europäischen Gegenküste wäre bedroht und damit wäre die für die globale Bedeutung Amerikas unverzichtbare Kontrolle Europas durch die USA gefährdet.
Das ist der Kern der politischen Herausforderung, vor der der Westen im Jahr 2024 stehen wird, und diese hat eine ganz einfache Messlatte: die Erfüllung des 2-Prozent-Ziels der NATO.
Der Westen hat durchaus das Potenzial, Putins Expansionspläne zu verhindern, vorausgesetzt er bleibt geschlossen und die Politiker und die von ihnen geführten Bevölkerungen im freien Europa erkennen endlich die Gefahr und handeln entschlossen. Geschieht das, dann kann Europa auch bei einer Wahl Trumps zuversichtlich sein. Schließlich entspricht Russlands Wirtschaftskraft gerade mal der Italiens, und bei Nachdenken wird man auch in den USA erkennen, dass der Verlust Europas das Ende amerikanischer Weltherrschaft bedeuten würde. Was gegenwärtig allerdings bedenklich stimmt, ist die fehlende Führungsstärke in Europa und vor allem in Deutschland.
Es stehen Deutschland somit mehr als unruhige Zeiten bevor, und so bleibt jetzt nur die Hoffnung, dass auch in Berlin die Gefahr endlich erkannt und dementsprechend parteiübergreifend gehandelt wird. Vor diesem Hintergrund sind die derzeitigen in das Jahr 2024 hineinwirkenden Konflikte zu bewerten, und es ist zu fragen, ob und wo neue Konflikte entstehen könnten.
-
Die bestehenden Konflikte
Gegenwärtig sind es zwei Konflikte, die Europa und Deutschland unmittelbar berühren und die nach Positionierung verlangen: der Ukraine-Krieg, der nun schon zwei Jahre dauert, und der blutige Konflikt im Nahen Osten seit dem 7. Oktober 2023.
-
Wo steht Deutschland im Ukraine-Konflikt?
Deutschland ist neben den USA der Unterstützer der Ukraine schlechthin und verurteilt eindeutig Russlands hegemoniale Ambitionen.
-
Wo steht Deutschland im Nahost-Konflikt?
Im Konfliktfall Nahost darf man auf westlicher Seite bei allem Bestreben, das Leiden der Palästinenser zu verringern, und trotz nicht unberechtigter Kritik an der militärischen Operationsführung Israels den Ausgangspunkt nicht aus den Augen verlieren.
-
Folgerungen für Deutschland und Europa
Europa wie Deutschland bleiben somit durch beide Konflikte – in der Ukraine und in Nahost – gebunden und auch damit in Sicherheitsfragen abhängig von den USA.
-
Die sicherheitspolitische Agenda 2024
Konsequenzen für das politische Handeln Deutschlands müssten in den ersten Monaten des Jahres 2024 gezogen werden